«Diagonal»: Du oder Sie – Hauptsache menschlich.
Liebe Céline
Der feine Unterschied in der Ansprache – Du oder Sie – ist in der Ostschweiz nicht verschwunden. Im Gegenteil. Doch weil die Regeln heute weniger stur als früher gehandhabt werden, ist die Welt des Dutzens und Siezens nicht einfacher geworden. Kürzlich hatte ich mal wieder so einen Tag, an dem ich die Normen des Grüssens mit tapsigem Gespür für sprachliche Fettnäpfchen zelebrierte. Das muss ich Dir – pardon Ihnen – kurz erzählen. Ich stand gerade verspätet mit meinem Auto auf dem Firmenparkplatz, als in meiner Tasche das Handy dauerhaft klingelte. Schon ziemlich genervt über die Fahrkünste einiger Frühstücksfahrer nahm ich den Anruf entgegen, ohne genauer auf die Nummer zu schauen: «Hoi, du ich habe keine Zeit. Kannst du mir bitte ein WhatsApp schreiben. Bin im Stress und ruf dich später an…» Die unbeeindruckt freundliche Stimme am anderen Ende der Leitung gehörte aber nicht dem Phantom in meinen Gedanken, sondern der Sekretärin meines Arztes. «Oh sorry, ich dachte… Alles klar. Ja, genau. Ja, Ihnen auch einen guten Tag und vielen Dank für die Terminbestätigung…» Zum Glück sind wir im Büro per Du und mit meinen Kunden bin ich das auch – das macht das Leben schon einfacher. Zum Lunch liess ich mich dann von einem Kumpel überreden, in ein Restaurant zu gehen (das waren noch Zeiten vor dem Lockdown). Ich kannte mal wieder die halbe Beiz und wusste bei mindestens der Hälfte aller Gesichter nicht mehr, ob ich per Sie oder Du bin. Nur der Kellnerin war das völlig egal – Sie dutzte mich einfach. Um sicher zu gehen, wirklich niemanden zu befremden, wählte ich den ganzen Mittag die Hallo-Strategie. Mit diesem Neutrum war ich safe. Dann zog ich weiter, nur mein Kaugummi blieb da – er hängt bestimmt immer noch dort rum… Als ich am Abend nach Hause kam, standen ein paar Nachbarn vor meiner Garage. Sie machten Smalltalk. Wohl oder übel musste ich auch ein paar Worte sagen. Wie ich halt so bin, begrüsste ich die ganze Gruppe mit «Hoi zäme!». Das kam leider nicht durchgehend gut an. Die zwei älteren Damen, die ich vom Sehen her kannte, erwiderten emotional im Tiefkühlbereich mit «Guetä Obig». Als dann ein weiterer Nachbar dazu kam, hatte ich meine Lektion gelernt und begrüsste den rund zwanzig Jahre jüngeren Mann mit einem höflichen «Grüezi». Er sagte völlig entspannt: «Hoi i bi dä Ben – ah dir kört dä geil Ofä. Min Daddy hät au so einä ka.» Na ja, dachte ich, wenigstens mein Auto gefällt ihm. Danach war ich ehrlich gesagt froh, endlich die Haustüre hinter mir schliessen zu können. Zuhause dutzen wir uns.... Aber das ganze Gehabe wird eh völlig überschätzt. In der Sprache des Herzens zählt sowieso nur der Mensch.
Nun nimmt es mich aber wunder, Céline: Wie ist das bei dir in der Romandie? Oder soll ich sagen: Wie ist es bei Ihnen?
Der Zeitpunkt kann für ein erfolgreiches Geschäftstreffen entscheidend sein.
Lieber Marcel
Vielen Dank für «deine» ... «Ihre» oder vielmehr «die» sehr wichtige Frage! Die neutrale Form ist wie ein Rettungsring, wenn wir nicht mehr wissen, ob wir eine Person duzen oder siezen sollen. Wie oft habe ich doch die Engländer um ihr universelles «you» beneidet! «Du, Sie, you» klingt wie drei von einem Vogel gepfiffene Töne, in denen die ganze Komplexität, Unbeholfenheit und Verlegenheit enthalten ist, die solche Situationen hervorrufen können.
In der Berufswelt habe ich immer die Höflichkeitsform bevorzugt ... Ausser jetzt, wo ich mit dem Storytelling Public-Speaking-Kurse gebe: Da gehen wir sehr schnell zum Du über. Es kommt oft vor, dass man an einer Konferenz teilnimmt, bei der sich einige Leute duzen, während sich andere siezen, und da wird es sehr kompliziert, den Überblick zu behalten und sich alles richtig zu merken. Manchmal fällt es uns schon schwer, uns die Vornamen der Teilnehmer einzuprägen, so dass diese verschiedenen Anredeformen alles nur noch komplizierter machen. In der Romandie haben wir noch grossen Respekt vor dem Alter und dem Wissen einer Person und trauen uns nicht immer – deshalb behalten wir gerne die Höflichkeitsform bei. Handkehrum verwenden wir oft den Vornamen mit der Sie-Form, um unserem Gesprächspartner näher zu kommen, was der Sache dann einen kleinen französischen Touch gibt.
Als ich die ersten Male mit gleichgesinnten Unternehmern in der Deutschschweiz zusammenarbeitete, bemerkte ich, dass das Duzen hier überall präsent ist. Trotz meines anfänglichen Unbehagens finde ich es nun sehr angenehm: Der Kontakt wird dadurch enger, zugänglicher und sympathischer. Wir sitzen alle in einem Boot und haben dieselben unternehmerischen Sorgen.
Eine andere sehr lustige Sache war, als ich auf beiden Seiten des Röstigrabens Vorträge hielt und Musik spielte. Ich hatte sehr unterschiedliche Playlists für die deutsche und die französische Schweiz, vor allem was die klassische Musik anbelangt!
Zudem finden Geschäftstreffen eindeutig nicht zu den gleichen Zeiten statt. Wenn ein Deutschschweizer Vertreter in die Romandie kommt und um 9 Uhr morgens einen Termin vereinbart, um einem Romand etwas zu verkaufen, so wird er sein Auftragsbuch nie füllen. Er muss den Termin für 11 Uhr oder 16 Uhr festsetzen und dazu eine schön gekühlte Flasche Weisswein auftischen – so füllt sich das Auftragsbuch reichlich. Andererseits, wenn der Westschweizer Vertreter um 11 Uhr in der Deutschschweiz etwas verkaufen möchte und sein Ansprechpartner einen leeren Magen hat, da kann ich mir vorstellen, dass sich das Auftragsbuch auch nicht wirklich füllen wird.
Also, lieber Marcel: Können wir uns duzen? Machen wir bald einmal «Schmoliz», wie man bei uns so schön sagt, also trinken wir bald auf «Brüderschaft»? – mit diesen Aspekten der Vereinbarung von Geschäftsterminen?
Im nächsten Monat übergeben wir das Zepter dann an zwei andere UnternehmerInnen. Sie haben Lust mit jemandem aus der Deutschschweiz oder Romandie zu diskutieren? Kontaktieren Sie uns über: info@ruz.ch.