«Der RUZ-Unternehmensphilosoph»: Die hegelianische Dreifaltigkeit
Der Unternehmer ist allein. Er denkt allein, er entscheidet allein; sehr oft ist er das Alpha und das Omega bei der Ausführung. Ein KMU mit 30 Mitarbeitern kann sich keinen Stab leisten.
Jeder Unternehmer geht mit dieser Einsamkeit auf seine Weise um. Manche ziehen situativ Dritte bei. Meistens beobachte ich eine einsame Herangehensweise, die aus einer guten Dosis Empirie besteht – manchmal vermischt mit rationalem Umdenken. Man konsultiert seine Intuition, sein Bauchgefühl. Dann listet man rational die Vor- und Nachteile auf. Und schliesslich geht man nochmals in sich. Manchmal bleibt eine Unsicherheit bestehen, und man probiert es einfach aus.
Das ist oft eine gute Methode. Sie erfordert sowohl Vernunft als auch Erfahrung, was zielführend ist. Aber die Einsamkeit bleibt, und mit ihr die Einseitigkeit der Ansichten. Wie kann man sein Reflexionsfeld erweitern?
Die heglianische Dreifaltigkeit
Eine relativ einfache Methode kommt von Georg Friedrich Wilhelm Hegel, einem deutschen Philosophen, der vor allem zu Beginn des 19. Jahrhunderts wirkte. Hegel ist einer der grössten und berühmtesten Philosophen aller Zeiten. Seine Dialektik hat ihre Spuren hinterlassen, und die meisten Philosophen nach ihm sind mehr oder weniger seiner Tradition gefolgt oder haben sich bewusst von ihr distanziert: Hegel ist so präsent, dass man ihn nicht ignorieren kann.
Aus der von ihm geprägten Dialektik geht die vorgeschlagene Methode hervor. Nach Hegel erklärt sich die Welt durch einen ternären Rhythmus: These, Antithese, Synthese. Aus den Gegensätzen wird die nächste Stufe der Entwicklung geboren. Ein paar Beispiele: aus Frau (These) und Mann (Antithese) wird das Kind geboren (Synthese). Aus der vollständigen Unterwerfung des Menschen unter Gott nach dem Alten Testament (These) und dem griechisch-römischen Heidentum, das zwei Parallelwelten zwischen Menschen und Göttern errichtet (Antithese), entsteht das Christentum mit seinem transzendenten, von Gott geschaffenen Menschen (Synthese). Aus der alten französischen monarchischen Ordnung des 18. Jahrhunderts (These) und der jakobinischen Revolution von 1792 (Antithese) entstand das napoleonische Reich (Synthese). Die Beispiele sind zahlreich. Schauen Sie sich um und Sie werden einige entdecken.
Eine Methode der unternehmerischen Reflexion
Lassen Sie uns nun die hegelianische Dialektik auf unternehmerische Fragen übertragen. Wie wir gesehen haben, bildet sich der Unternehmer eine Meinung darüber, wie eine Entscheidung zu treffen ist. In Hegels Worten ist dies die These. Normalerweise hört der Unternehmer dort auf.
Nun muss er sich zwingen, einen Schritt weiter zu gehen: die Antithese seiner eigenen Meinung zu formulieren und so weit wie möglich die Argumente zu suchen, die für diese Antithese sprechen. In gewisser Weise muss man sich selbst davon überzeugen, dass man auf dem Irrweg ist. Diese Position wird manchmal als «advocatus diaboli» bzw. «des Teufels Advokat» bezeichnet.
Schliesslich muss er die Synthese finden. Ausgehend vom Besten der ursprünglichen Meinung (These) und der Antithese versucht er, eine dritte Lösung zu finden, die so viele Vorteile wie möglich aus diesen beiden Lösungen auf sich vereinigt. Achtung, die Synthese ist kein Kompromiss: Sie ist eine Weiterentwicklung der These und der Antithese auf einer höheren Stufe.
Umsetzung in der Praxis
Ein Beispiel aus der Praxis macht das Ganze konkreter. Ein Westschweizer Dienstleistungsunternehmen wollte im Deutschschweizer Markt wachsen. Nach Ansicht des Unternehmers sollte dieses Wachstum organisch durch die Eröffnung von Verkaufsstellen in drei Städten verwirklicht werden (These). Vorteile: Qualitätskontrolle vom ersten Tag an und Aufrechterhaltung der Unternehmenskultur. Der Unternehmer wollte eine Zweitmeinung. Das Raiffeisen Unternehmerzentrum, das in diesem Fall konsultiert wurde, formulierte das komplette Gegenteil von organischem Wachstum: den Kauf eines konkurrierenden Unternehmens, das bereits in der Deutschschweiz etabliert ist. Vorteile: bestehendes Kundenportfolio, Kenntnis des Marktes und der lokalen Kultur. Auf diese Weise konnten das RUZ und der Unternehmer dann eine Synthese erarbeiten, die die Vorteile der These und der Antithese so weit wie möglich zusammenführt. So stellte das Unternehmen zunächst eine Handvoll bisher selbständiger, lokal gut etablierter und gut vernetzter Personen ein, die gewillt waren, die Strukturen des betreffenden Unternehmens zu nutzen, um ihren Handlungsspielraum zu erweitern. Nach neunmonatiger Vorbereitung am Hauptsitz des Unternehmens in der Westschweiz begann die Expansion und trug schnell Früchte.
Das Praktizieren der Dialektik verlangt im Alltag Zeit und Energie. Aus Effizienzgründen schlage ich vor, sie vor allem auf strategische Fragen anzuwenden. Am besten geht man etappenweise vor und lässt eine Woche zwischen jedem Schritt verstreichen:
- Zuerst müssen die zwei oder drei anstehenden strategischen Entscheidungen identifiziert werden.
- Als nächstes nimmt man sich die Zeit, für jede von ihnen eine eigene These zu formulieren.
- Weiter formuliert man mit möglichst viel Überzeugung die Antithese und sammelt die Argumente, die dafür sprechen.
- Schliesslich ist die Synthese zu formulieren, indem bereits in den vorangehenden Schritten identifizierte Vorteile und Argumente kombiniert werden.
Mit Hegel den Geist zu öffnen, ist intellektuell interessant und schafft unternehmerische Lösungen. Und falls Unterstützung für dieses Vorgehen benötigt wird, hilft das RUZ gern weiter.
Die RUZ-Reihe «Der Unternehmensphilosoph» greift ausgewählte unternehmerische Themen auf, um sie aus philosophischer oder manchmal historischer Sicht zu beleuchten. Die Serie zielt darauf ab, dem Unternehmer-Leser einen zusätzlichen Blickwinkel zu geben und Perspektiven zu eröffnen. Die Meinungen des Autors in dieser Serie spiegeln nicht unbedingt die Ansichten des RUZ oder der Raiffeisen-Gruppe wider.
Über den Autor: Louis Grosjean, lic.iur., Inhaber eines Anwaltspatents, ist seit mehr als 10 Jahren in der Raiffeisen-Gruppe tätig, unter anderem für das RUZ. Aus einer Unternehmerfamilie stammend, hat er sich in den Bereichen Wirtschaft und Philosophie weitergebildet und seine eigene Firma gegründet. Mit dem RUZ setzt er sich für das Unternehmertum in der Schweiz ein.